Zur Hauptnavigation springen Zur Suche springen Zum Inhalt springen
InstagramRSSPrint

500 Jahre Evangelisches Gesangbuch

1524 – 2024

2024 jährt sich das erste evangelische Gesangbuch zum 500. Mal: 1524 erschien das Geistliche Gesangbüchlein, eine Sammlung von 43 drei- bis fünfstimmigen Sätzen zu 38 deutschen und fünf lateinischen Gesängen, unter denen 24 von Martin Luther stammten.

Mit dem Gemeindelied schuf er in Kooperation mit seinem Kantor Johann Walter (1496-1570) eine neue musikalische Gattung, die zur Grundlage für die evangelische Kirchenmusik der nachfolgenden Jahrhunderte wurde: von Schütz über Bach bis zu Mendelssohn und Reger, in der Vokalmusik ebenso wie in der Orgelmusik. Das Geistliche Gesangbüchlein wurde zum Vorbild für alle folgenden (Chor-)Gesangbücher. Auch im heutigen Evangelischen Gesangbuch (EG) befinden sich zahlreiche Melodien, die schon in der allerersten Ausgabe enthalten waren, allerdings fast ausschließlich einstimmig.


Dr. Cordelia Miller, Kantorin der Evangelischen Paulus-Kirchengemeinde Lichterfelde, stellt im Jubiläumsjahr jeden Monat ein Lied vor:

Wer nur den lieben Gott lässt walten (EG 369)

Text und Melodie: Georg Neumark (1641) 1657

Wer nur den lieben Gott lässt walten
und hoffet auf ihn allezeit,
den wird er wunderbar erhalten
in aller Not und Traurigkeit.
Wer Gott, dem Allerhöchsten traut,
der hat auf keinen Sand gebaut.
(1. Strophe)

Georg Neumark (1621-1681) gehört zu denjenigen Dichtern, die ein einziges Lied unsterblich machte. Es sind nicht zuletzt die Umstände seiner Entstehung, die in Wer nur den lieben Gott lässt walten dem darin thematisierten Gottvertrauen so viel Glaubwürdigkeit verleihen: Auf dem Weg nach Königsberg, wo Neumark ein Jurastudium aufnehmen wollte, verlor er bei einem Raubüberfall seine gesamten Ersparnisse, was ihn dazu zwang, seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer zu verdienen, bevor er erst drei Jahre später sein Studienvorhaben verwirklichen konnte.

1652 wurde Neumark Bibliothekar, Sekretär und Hofpoet Herzog Wilhelms IV. von Weimar. Dieser machte ihn 1655 zum Geschäftsführer der Fruchtbringenden Gesellschaft, einer der bedeutendsten Literatur- und Sprachgesellschaften des Barock.

Neumarks Gesamtwerk umfasst 74 geistliche und weltliche Strophenlieder, von denen ein großer Teil 1657 in der Sammlung Poetischer Lustwald erschien. Im Evangelischen Gesangbuch hat sich jedoch lediglich sein berühmtestes Lied erhalten. Hier gelang ihm eine kongeniale Einheit zwischen dem wunderbar trostreichen Text und der schönen Melodie.

Dr. Cordelia Miller

O Traurigkeit, o Herzeleid! (EG 80)

Text: Friedrich Spee von Langenfeld (1628), Johann Rist (1641)

O Traurigkeit, o Herzeleid!
Ist das nicht zu beklagen?
Gott des Vaters einigs Kind
wird ins Grab getragen.

O große Not!
Gotts Sohn liegt tot.
Am Kreuz ist er gestorben;
hat dadurch das Himmelreich
uns aus Lieb erworben.
(1. und 2. Strophe)

Das Passionslied O Traurigkeit, o Herzeleid! stammt aus der Feder gleich zwei der bedeutendsten deutschen Kirchenlieddichter des Barock: Friedrich Spee schrieb 1628 die erste Strophe, dreizehn Jahre später ergänzte Johann Rist die Strophen zwei bis fünf. Eine weitere Besonderheit ist das Lied als frühes Zeugnis der Ökumene inmitten eines verheerenden Krieges zwischen den Konfessionen: Friedrich Spee war katholischer Priester, Jesuit und Theologieprofessor in Paderborn, Johann Rist evangelisch-lutherischer Pfarrer in Norddeutschland.

Beide Dichter litten schwer unter dem Dreißigjährigen Krieg: Rist verlor beim Einfall der Schweden in Holstein fast seinen gesamten Besitz und musste mit seiner Familie fliehen, Spee starb 1635 bei der Pflege der Verwundeten im Kriegsgebiet in Trier an einer Seuche. Er war zuvor seines Amtes enthoben und nach Trier zwangsversetzt worden, nachdem er seine kritische Haltung gegenüber den Hexenprozessen, deren Wahn er vor allem während seiner Zeit als Beichtvater in Würzburg aus nächster Nähe miterlebte, 1631 in der Anklageschrift Cautio criminalis öffentlich gemacht hatte.

Mit seinem poetischen Hauptwerk Trutznachtigal, einer Sammlung von 52 Liedern, trat Friedrich Spee als christlich-mystischer Lyriker in Erscheinung. Ziel dieser Sammlung war, der weltlichen Liebeslyrik eine gleichrangige christliche Lyrik entgegenzustellen – „Trutz“ also im Sinne einer Entgegensetzung – und zu zeigen, „daß auch in der Teutschen Spraach man gut poëtisch dichten, und reden könne“ zum Lobe Gottes. Diesen Anspruch teilte er mit Johann Rist, von dem u.a. der Weihnachtschoral Brich an, du schönes Morgenlicht stammt, den Johann Sebastian Bach in sein Weihnachtsoratorium aufnahm. Von Spee sind bis heute vier Kirchenlieder fester Bestandteil der Gesangbücher beider Konfessionen, darunter das bekannte Adventslied O Heiland, reiß die Himmel auf.

Dr. Cordelia Miller

Auf, auf, mein Herz, mit Freuden (EG 112)

Text: Johann Crüger (1598-1662) Musik: Paul Gerhardt (1607-1676)

Auf, auf, mein Herz,
mit Freuden nimm wahr,
was heut geschieht;
wie kommt nach großem Leiden
nun ein so großes Licht!
Mein Heiland war gelegt
da, wo man uns hinträgt,
wenn von uns unser Geist
gen Himmel ist gereist.

Er bringt mich an die Pforten,
die in den Himmel führt,
daran mit güldnen Worten
der Reim gelesen wird:
Wer dort wird mit verhöhnt,
wird hier auch mit gekrönt;
wer dort mit sterben geht,
wird hier auch mit erhöht.
(1. und 8. Strophe)

Paul Gerhardt (1607-1676), der als der bedeutendste Kirchenlieddichter nach Martin Luther gilt, hinterließ rund 130 Lieder, von denen sich 26 im Evangelischen Gesangbuch (EG) befinden. Gemäß der Liederkunde im Anhang des EG "zeichnen [diese] sich durch sprachliche Schönheit und Natürlichkeit aus; auf dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges spiegeln sie persönliches Gottvertrauen und christliche Heilserfahrung". Mit Johann Crüger und Johann Georg Ebeling traf Gerhardt auf zwei Komponisten, die mit ihren kongenialen Melodien wesentlich zur Popularität seiner Lieder beitrugen. Johann Crüger (1598-1662), der die Melodie zu Gerhardts Osterlied Auf, auf, mein Herz, mit Freuden schrieb, war von Haus aus Theologe: Nachdem er das heute noch bestehende Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster besucht hatte, studierte er in Wittenberg Theologie. Als Musiker und Komponist war er hingegen Autodidakt und wurde dennoch zu einem der bekanntesten Komponisten von Kirchenliedmelodien.

Vergleichen wir die Passions- und Osterlieder des EG, so fällt auf, dass die ernsten Passionslieder meist im Zweier- oder Vierertakt stehen, die fröhlichen Osterlieder dagegen im Dreiermetrum. So auch das Osterlied Auf, auf, mein Herz, mit Freuden, das im 6/4- bzw. 9/4-Takt steht. Verstärkt wird der tänzerische Charakter durch zahlreiche punktierte Noten und Sprünge. Dabei ist das Lied inhaltlich alles andere als ein fröhliches Tanzlied – Triumphlied wäre wohl der angemessene Begriff. Der auferstandene Christus triumphiert über den Tod und damit über alles Dunkle: Trübsal, Unglück, Nacht, Not, Sünde und Hölle. Wer sich im Vertrauen auf seinen Sieg ("Viktoria") stellt, findet in ihm Geborgenheit: "Es tobe, was da kann, mein Haupt nimmt sich mein an, mein Heiland ist mein Schild, der alles Toben stillt." Der triumphierende Grundton des Textes findet auf musikalischer Ebene am ehesten Widerhall in der aufsteigenden Linie am Schluss: Es ist ungewöhnlich, dass ein (Kirchen-)lied wie in diesem Fall auf seinem höchsten Ton endet.

Die Herausgeber des EG für die "Provinz Brandenburg" aus dem Jahr 1905 haben sich offensichtlich weniger vom Inhalt als von der beschwingten Melodie leiten lassen, als sie entschieden, das Lied im Anhang unter der Rubrik "Geistliche Volkslieder" aufzuführen. 120 Jahre später hat das beliebte Osterlied längst seinen Stammplatz im Hauptteil des Gesangbuchs gefunden.

Letzte Änderung am: 03.04.2024