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Mit geschlossenen Augen die Wirklichkeit anders wahrnehmen

Elisabeth Schaller über Christliche Spiritualität und Geistliche Begleitung

Seit 12 Jahren ist sie Pfarrerin der Lankwitzer Dreifaltigkeits-Kirchengemeinde mit 50 Prozent Dienstumfang. Als Beauftragte für die Arbeit mit Kindern gehört sie außerdem seit 2015 zum Team des Kirchenkreises Steglitz. Elisabeth Schaller hat darüber hinaus einen Schwerpunkt in Geistlicher Begleitung, der das Profil ihrer kreiskirchlichen Beauftragung ergänzt. In einem Gespräch erläutert die 45-Jährige ihren Ansatz christlicher Spiritualität.

Liebe Elisabeth, du bist seit fast fünf Jahren Geistliche Begleiterin. Was hat dich auf diesen Weg geführt?

Eine Schweigewoche im Ev. Gethsemanekloster vor ca. 14 Jahren war für mich eine, wenn nicht die prägende Erfahrung. Sie hat mich nicht mehr losgelassen. Meine ganze an der Uni erlernte Theologie, meine Arbeitspraxis als Pfarrerin hat sich wahrhaftig vom Kopf auf die Füße gestellt. Damals habe ich erst mit meinem ganzen Sein verstanden, was ich vorher nur intellektuell durchdrungen hatte. Nach dieser Erfahrung wollte ich die christliche Kontemplation vertiefen und mehr über monastische Theologie und Autorinnen und Autoren christlicher Mystik lernen. Ich wollte auch ganz praktisch herausfinden, wie ich dieses Wissen in meiner Arbeit als Pfarrerin nutzen kann.

Stille Tage, Meditation, Pilgern, Exerzitien, Fasten, Kloster auf Zeit … es gibt viele Formen der Glaubenspraxis, die einerseits uralt sind und zugleich bei modernen Menschen auf offene Ohren und Herzen stoßen.

Ich habe dann eine dreijährige ökumenische Fortbildung zur Geistlichen Begleiterin im Kloster Lehnin und im Karmelkloster Birkenwerder absolviert. Diese Weiterbildung umfasste Grundformen christlicher Spiritualität, wie sie bis heute vor allem in Klöstern gelebt werden: Inneres Beten, Herzensgebet, Körpergebet, Stundengebet, Lectio Divina (eine besondere Weise der Meditation biblischer Texte), Karmelitanische Exerzitien und die anschließende Reflexion der Selbsterfahrung. Alle Teilnehmenden mussten außerdem ein Praxisprojekt für das eigene Arbeitsfeld entwickeln und durchführen, einen Kurs außerchristlicher Spiritualität besuchen, eine Studienarbeit zu einem christlichen Mystiker oder einer Mystikerin verfassen und sich selbst eine Geistliche Begleitung für die Ausbildungszeit suchen.

Wie unterscheidet sich Geistliche Begleitung von Seelsorge?

Die Geistliche Begleitung nimmt vor allem die eigene Gottesbeziehung in den Blick. Menschen, die geistliche Begleitung suchen, wünschen sich Austausch über Fragen des Gottesbildes, der Glaubenspraxis und des Gebets. Oft sind Glaubens- und Lebenskrisen oder schlicht Zweifel der Anfang einer Geistlichen Begleitung.
Geistliche Begleitung ist eine spezielle Form der Seelsorge, die genau diese Fragen anschaut. Es wird ein Gesprächsprozess verabredet, der über mehrere Monate oder Jahre gehen kann. Dazu kommen auch praktische Übungen, je nachdem, was die suchende Person unterstützen kann. Als Begleiterin helfe ich ihr, die eigene Glaubenspraxis zu finden und zu entfalten.

Unsere Gottesdienste und Andachten sind voller Worte, gesprochen und gesungen. Nun aber Stille – warum?

Ich erlebe Stille als kraftvollen Erfahrungsraum, gerade weil mein Alltag voller Worte ist. Viele Menschen berichten davon, dass sie ihren Alltag als laut, unruhig, hektisch erleben. Im Kloster sagen die meisten Einkehrgäste, dass sie „Ruhe“ suchen und eine innere Welt, die ihnen in der Geschäftigkeit von Beruf, Familie oder anderen Verpflichtungen abhandengekommen ist. Stille ist dann erstmal heilsam. Stille wird aber nicht nur um ihrer selbst willen gesucht. Wenn ich still werde, werde ich neu empfindsam: achtsam für mich selbst, andere Menschen, meine Umgebung, Gott.

Aus dieser Haltung erwächst oft ein neuer Glaube, der erstmal ganz persönlich und subjektiv ist. Ich schätze die eigene Erfahrung, die Menschen mit Gott machen mehr als alles, was ich ihnen als Pfarrerin zu sagen habe. Der Glaube, der aus einer kontemplativen Haltung erwächst, ist unmittelbar, braucht in erster Linie keinen anderen Gelehrten, keine kluge Pfarrerin. Das ist ein moderner Gedanke, den ich mag. Stille ermöglicht Partizipation: Der still und andächtig betende Mensch spürt, dass es um ihn selber geht.

Ich denke, dass die Überlebens- und Zukunftsfähigkeit der Kirche davon abhängt, wie sehr wir genau diese Partizipation, diese Erfahrungsräume ermöglichen. Karl Rahner, ein katholischer Theologe hat schon vor über 50 Jahren gesagt: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, einer, der etwas „erfahren“ hat, oder er wird nicht mehr sein!"

Was sind Mystikerinnen und Mystiker?

Mystik ist für viele in der Wortbedeutung verbunden mit geheimnisvoll, verborgen, mysteriös. Das ist nicht ganz zutreffend. Das Wort Mystik wird oft abgeleitet von griechisch „myein“ – schließen, die Augen schließen. Das kommt der Sache schon näher. Eine Person, die die Augen schließt, nimmt die Wirklichkeit anders wahr.

Menschen, die man als Mystikerinnen und Mystiker bezeichnet, wurden von Gottes Wirklichkeit spürbar berührt, haben eine Gotteserfahrung gemacht. Sie haben nicht mit den leiblichen Augen Gott gesehen, sondern mit „inneren Augen“ geschaut, wurden „erleuchtet“, haben eine Erkenntnis, die man als intuitiv bezeichnen kann. Das können einmalige oder auch wiederkehrende Erlebnisse sein. Ich denke, dass jeder Mensch tatsächlich solche Erfahrungen macht, aber ein Mystiker, eine Mystikerin traut dieser Erfahrung und sucht weiter, weil „es doch mehr als alles geben muss.“ (Dorothee Sölle)

Oft sind Mystiker und Mystikerinnen theologisch sehr offen. Sie haben keine religiösen Festlegungen, dass Gott nur so ist, wie es die Dogmatik lehrt oder Gott nur da zu finden ist, wo es eine geregelte Gottesdienstkultur gibt. Sie sind Menschen mit einer großen Gottes-Sehnsucht. Nicht selten ist das gepaart mit einer Kritik an institutioneller Religiosität, die sie als formalistisch oder auch als autoritär und machtaffin ablehnen. Mystikerinnen und Mystiker wurden daher oft ketzerischer Gedanken verdächtigt und waren innerkirchlich Verfolgungen ausgesetzt.

In jedem Fall waren es immer faszinierende Figuren, deren Gedanken kirchenpolitische Sprengkraft besaßen. Der vielleicht älteste bekannte christliche Mystiker war wohl Paulus. Martin Luther wird auch teilweise als Mystiker eingeordnet. Die großen Namen sind natürlich Meister Eckhart, Theresa von Avila, Johannes vom Kreuz und andere. In der Moderne gehören zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer und Dorothee Sölle dazu.

Was für ein Ort ist das Gethsemanekloster, was ist das Besondere dort?

Es gibt viele Klöster, die Menschen einladen, für eine Zeit im Kloster zu leben. Im Gethsemanekloster sind es evangelische Brüder, die eine kontemplative Lebensform gewählt haben und alle Gäste einladen, während ihres Aufenthaltes daran teilzuhaben. Daher ist das ganze Kloster, besonders die sogenannten Sakralräume, ein Ort des Schweigens und des Gebets. Die Brüder nennen das „durchbeteten Raum.“ Man spürt in den Gebetsräumen, den sorgsam gestalteten Gästezimmern, der großen historischen Parkanlage ringsum, dass alles auf eine andere Wirklichkeit zeigt. Das ist sehr eindrücklich!

Wenn ich mit einer Gruppe dorthin fahre, erkläre ich den Mitreisenden, dass wir zwar als Gemeinschaft dort ankommen, aber jede und jeder mit Betreten des Klosters die eigene innere Reise antritt. Wir nehmen an den Gebetszeiten morgens, mittags und abends teil. Darüber hinaus verbringen wir die Zeit im Schweigen. Alle Ablenkungen, alle Geschäftigkeit bleiben zurück, Smartphones und Laptops sollen ausgeschaltet sein, keine Medien konsumiert werden. Für viele ist das erstmal ungewohnt, manche finden es sehr schwer, andere sind sofort erleichtert und befreit. Allein diese Erfahrung ist Gold wert.

Ich finde es nie langweilig dort, es ist für mich ein wahnsinnig schöner Ort, ein Paradies auf Erden.

Seit einigen Jahren hast du neben der Stille auch die Malerei für dich entdeckt. Gibt es da Verbindungen für dich?

Tatsächlich trage ich schon einige Zeit den Gedanken in mir, eine Studienarbeit zum Thema „Kunst und Kontemplation“ zu schreiben. Für mich gibt es faszinierende Parallelen. Ich male seit zwei Jahren sehr regelmäßig und merke, dass das inzwischen mehr und mehr meine Meditationszeiten ersetzt. Wenn ich male, bin ich ganz versunken. Ich vergesse Raum und Zeit und bin zugleich ganz bei mir, ganz in dem kreativen Tun, ganz in der Gegenwart. Es gibt eine Erfahrung, die ich auch vom Beten kenne, die man als Flow bezeichnet: Der Atem wird tiefer, das Bewusstsein wach und zugleich ist es, als wenn jemand anders in mir sieht und malt und nicht ich. Manchmal staune ich danach, was entstanden ist und kann gar nicht glauben, dass ich das war.
Oft bin ich beim Malen einfach nur glücklich und zufrieden – allerdings nicht immer! Ich glaube, dass viele Künstlerinnen und Künstler tatsächlich das kreative Tun als spirituelles Erlebnis erfahren oder erfahren haben.

Fragen: ubo

Letzte Änderung am: 18.01.2023