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Deportation aus dem Blindenheim

Berlin, 11.5.17: Am Donnerstag, den 1. Juni 2017 von 9–9.30 Uhr verlegt der Kölner Künstler Gunter Demnig 10 Stolpersteine vor dem ehemaligen jüdischen Blindenwohnheim in der Wrangelstraße 6–7, 12165 Berlin. Am Nachmittag um 16 Uhr werden die Stolpersteine im Rahmen einer Gedenkveranstaltung im nahe gelegenen Foyer des Schlossparktheaters offiziell an die Öffentlichkeit übergeben.

Die Feier beginnt um 16 Uhr mit einer Gedenkminute an den 10 Stolpersteinen vor dem Grundstück Wrangelstraße 6–7. Im Foyer des Schlosspark Theaters spricht anschließend Hans-Dirk Rommel, Zeitzeuge der Deportation aus dem Blindenheim. Daneben wird Janet Brueck, Großnichte des ehemaligen Bewohners Ferdinand Brück, ein Grußwort halten.

Petra T. Fritsche und Angelika Hermes verlesen die Biographien der Deportierten und informieren über den Dichter und Bewohner des Heims, Max Zodykow. Der Shalom-Chor begleitet die Veranstaltung musikalisch. Bis circa 18.15 Uhr bleibt Zeit für Gespräche und Informationen.

DIE 10 STOLPERSTEINE SIND FÜR:

 

Siegbert Goldbarth wurde am 6. September 1896 als jüngstes von vier Kindern in Berlin geboren. Seine Eltern waren Moses und Emilie (geb. Graetz) Goldbarth, die beide aus Samter, Kreis Posen in Polen stammten. Er hatte zwei Brüder – Rudolf und Arthur, geboren 1893 und 1889 und eine Schwester: Hertha, geboren 1884; sie war die älteste der Geschwister.

Siegbert war – vermutlich seit seiner Geburt – taub. Mit sechs oder acht Jahren erkrankte er an Gehirnhautentzündung, mit fünfzehn wurde Nachtblindheit diagnostiziert und mit 21 Jahren zog er in die Jüdische Blindenanstalt in Berlin-Steglitz. Er arbeitete dort als Bäcker, später als Bürstenmacher.

Zu dieser Zeit – in den dreißiger Jahren -  lebten seine Eltern in Bromberg (ab 1919 polnisch), ebenso wie seine Brüder, die beide promovierte Ärzte waren.

Nur Siegberts Schwester Hertha lebte ebenfalls in Berlin. Sie hatte drei Söhne. Der jüngste war Heinz, geboren 1917. Heinz hatte Siegbert, seinen jüngsten Onkel, sehr gern. Aus dem Jahr 1929 gibt es ein Foto, das Siegbert und Heinz in einem Freibad zeigt. Sie sitzen auf einer Decke und spielen Karten. Auf diesem Foto lächelt Siegbert, ebenso wie auf einem Porträtfoto, das Heinz dem Gedenkblatt in Yad Vashem beigefügt hat und das ihn als jungen Mann zeigt. Auch auf einem Gruppenfoto, das die Belegschaft der Blindenwerkstatt Otto Weidt im Jahr 1941 zeigt, lächelt er. Die enge Freundschaft zu Heinz zeigt sich auch in dem Geschenk, das Siegbert Heinz machte: eine Bürste, mit den Initialen von Heinz.

Nachdem ein Antrag des Kreisarztes von Berlin-Steglitz auf „Unfruchtbarmachung“ von Siegbert Goldbarth gestellt wurde, war es auch Hertha, die versuchte, ihrem Bruder zu helfen. Hertha und ein Pfleger legten gegen einen entsprechenden Beschluss der Charité Einspruch ein und begleiteten Siegbert zum Gericht. Obwohl Siegberts Blindheit keine erbliche Krankheit war, wurde der Einspruch zurückgewiesen. Siegbert wurde im August 1936 sterilisiert.

Wie alle anderen Bewohner des Blindenheims musste Siegbert Goldbarth im Jahr 1941 in das „Jüdische Blinden- und Taubstummenwohnheim“ in Berlin Weißensee, Parkstraße 22, umziehen. In dieser Zeit arbeitete Siegbert als Bürsteneinzieher in der Blindenwerkstatt Otto Weidt. Kurz vor der Deportation musste er noch in die Auguststraße 14-16 im Stadtbezirk Mitte ziehen. Dieses Haus war bis 1914 das Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde. Danach fanden jüdische Emigranten aus Osteuropa dort Zuflucht. Seit 1922 existierte hier das reformpädagogisch ausgerichtete Kinderheim AHAWAH. 1941 machte die Gestapo das Haus zum Sammellager für alte und kranke jüdische Menschen, die von hier aus deportiert wurden. Am 9.12.1942 wurde Siegbert Goldbarth von hier nach Auschwitz deportiert. Sein Todeszeitpunkt ist nicht bekannt.

Die Eltern von Siegbert wurden in Bromberg im Jahr 1940 ermordet. Der Bruder Rudolf hatte Gertrud Gappe geheiratet; sie hatten zwei Töchter: Dorothea und Ruth. Die gesamte Familie starb im Warschauer Ghetto. Auch der Bruder Arthur wurde im Holocaust ermordet, Ort und Zeitpunkt sind nicht bekannt.

Die drei Söhne Herthas konnten emigrieren. Hertha selbst konnte ebenfalls Deutschland verlassen. Sie lebte in Argentinien und starb 1954.

Heinz heiratete 1942 Hilde. Ihre Tochter Mariana, geboren 1943, lebt heute in Bahan, Israel.

Vor dem Grundstück Wrangelstraße 6-7, auf dem sich das Haus der „jüdischen Blindenanstalt“ befand, wird im Juni 2017 ein Stolperstein für Siegbert Goldbarth gelegt.


Text und Recherche: Petra Fritsche

 

Quellen:

Brandenburgisches Landeshauptarchiv

Yad Vashem

Family Tree (geni.com)

Mariana Kriguer, Großnichte und Yaara Benger, Urgroßnichte von Siegbert Goldbarth

GEB. BLUMENTHAL
JG. 1891
DEPORTIERT 29.11.1942
AUSCHWITZ
ERMORDET

Ferdinand Brück wurde am 27. September 1872 in dem kleinen Ort Feilbingert/ Kirchheimbolanden in Rheinland-Pfalz geboren. Seine Eltern waren Carl und Babette Brück, geborene Wolf. Ferdinand hatte sechs Brüder und zwei Schwestern. Die Familie lebte in Obermoschel, eine Kleinstadt in der Nähe von Ferdinands Geburtsort.

Ferdinand heiratete Regina Hertz, die ein Jahr jünger war als er. Sie bekamen 1901 eine Tochter, die sie Blandina nannten und die mit einem Jahr starb. Regina, seine Frau, starb im Jahr 1936, und vermutlich ist Ferdinand danach in das Blindenheim in Berlin Steglitz gezogen.

Wie alle anderen Bewohner des Blindenheims musste Ferdinand Brück im Jahr 1941 in das „Jüdische Blinden- und Taubstummenwohnheim“ in Berlin Weißensee, Parkstraße 22, umziehen. Von dort wurde er am 14. September 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er am 19. April 1943 starb.

Ferdinand Brück gab in seiner Vermögenserklärung, die er vor der Deportation ausfüllen musste, als seine Verwandten Siegfried und Lutz Brück an, die in Kolumbien lebten. Wahrscheinlich gab er seine Familie in Obermoschel nicht an, weil er sie schützen wollte. Vielleicht wusste er auch, dass drei seiner Brüder kurz vor ihm deportiert worden waren.

Sein Bruder Isaak wurde mit seiner Frau Clara, Oskar mit seiner Frau Jenny und der Bruder Adolf ebenfalls im Holocaust ermordet.

(Der Bruder Oskar und seine Frau Jenny hatten einen Sohn Arthur, den ich anschrieb, weil er ein Gedenkblatt für Ferdinand Brück in Yad Vashem ausgefüllt hat. Leider ist er bereits vor Jahren verstorben. Doch ich fand auch die Gedenkblätter, die Janet Brück für ihre Großeltern Oskar und Jenny Brück ausgefüllt hatte und bekam auf meinen Brief Antwort aus Memphis, Tennessee. Janet Brück wird bei der Stolpersteinverlegung für ihren Großonkel Ferdinand im Juni 2017 anwesend sein.)

 

Text und Recherche: Petra Fritsche

 

Quellen:

Brandenburgisches Landeshauptarchiv

Gedenkbuch

Yad Vashem, Gedenkblätter

Geni.com

Janet Brück



DIE JÜDISCHE BLINDENANSTALT

In der Steglitzer Wrangelstraße 6–7 befand sich zwischen 1910 und 1941 die „Jüdische Blindenanstalt für Deutschland e.V.“, eine Einrichtung für blinde, ab 1918 auch für gehörlose jüdische Frauen und Männer aus dem Deutschen Reich.

Die Blindenanstalt entstand als Gründung wohlhabender jüdischer Glaubensgenossen, initiiert durch den Berliner Fabrikanten William Neumann. Die Errichtung und den Erhalt der Anstalt übernahm der 1909 gegründete „Verein Jüdische Blindenanstalt“. Mitgliederbeiträge, Spenden und Vermächtnisse sollten das Werk jüdischer Wohltätigkeit für hilfsbedürftige Glaubensgenossen absichern.
 Moses Friedberger wurde 1910 Direktor der Blindenanstalt und der Mediziner Dr. Heinrich Rosin Vorsitzender des Vereins.

Als im September 1942 die Bewohner der Blindenanstalt deportiert wurden, existierte ihre Einrichtung schon nicht mehr. Am 12. Oktober wurde sie zunächst in die 1939 durch Gesetz gegründete Reichsvereinigung der Juden in Deutschland überführt. Am 20. April 1940 war diese als neue Eigentümerin des Grundstücks im Grundbuch eingetragen. Im Herbst 1941 reklamierte das Reichssicherheitshauptamt die Immobilie in der Wrangelstraße für seine Zwecke. Über die Bewohnerinnen und Bewohner wurde verfügt, das Haus bis zum 19. November 1941 zu räumen. Ihre neue Unterkunft wurde die Israelitische Taubstummenanstalt in Weißensee, die sich zu einer Sammelstelle von aus anderen Einrichtungen und Orten vertriebenen jüdischen Bewohnern entwickelte.

Barbara Wittkopf

Letzte Änderung am: 21.01.2022